Jahresheft 2017 zum Download (1,21 MB)
Das Jahr 2017 ist geprägt von bedeutenden Jubiläen. Vorrangig ist an den 500. Jahrestag der Reformation von 1517 zu denken, es fällt dagegen auf, wie selten bisher der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 Erwähnung findet, ganz zu schweigen von Sonderprogrammen zur Förderung von Erinnerung, Auseinandersetzung oder Würdigung – welcher Gestalt auch immer. Pointiert gesagt: Luther ist IN, Lenin OUT. Luthers Antisemitismus wird im Kontext der Zeit gesehen und häufig damit auch relativiert, während die Utopien Lenins direkt mit den verheerenden Folgen aller denkbaren Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Er verantwortet letztlich eine Revolution, Luther dagegen eine Reformation – beide mit tiefgreifenden und teilweise grausamen Folgen für die Geschichte wie für die persönlichen Menschenschicksale. Die Zeit wird zeigen, inwiefern es gerechtfertigt ist, Luther in vorwiegend verehrender Form zu würdigen, Lenin dagegen meist kritisch. Die Singakademie möchte mit ihren Konzerten und verschiedenen Reflexionen zur Differenzierung beitragen und die Jubiläen hinsichtlich gesellschaftlicher, politischer, ästhetischer und musikalischer Folgen befragen. So erklingt im Kontrast zu Ludwig Meinardus' großem romantischen Oratorium "Luther in Worms" bereits zu den Musikfestspielen ein Konzert mit Werken des 20. Jahrhunderts, die in Reaktionen auf 1917 entstanden sind. Beide Aufführungen werden von Symposien, Vorträgen und Podiumsdiskussionen begleitet.
Wie lange gilt eine Form, bevor sie einer Reformation oder Revolution bedarf? Ab wann ist die Veränderung von Formen revolutionär zu nennen und geht über das Reformieren hinaus? Inwiefern spiegeln sich solche Prozesse auch in Musik wider, nehmen Musik und Musizierende teil oder sind betroffen von diesen Auseinandersetzungen?
Entdeckungen und Anregungen
Solche und angrenzende Themen stehen im Mittelpunkt des Jahresprogramms, das Werke beinhaltet, die direkt und indirekt die reformatorischen oder revolutionären Vorgänge zum Thema haben. Und es stellt die Frage, wie die junge Generation sich die Form künftiger Musik vorstellt. Neigt sie zur Reform oder zur Revolution?
Die Singakademie nimmt die Jubiläen zum Anlass, den Blick einerseits in die Vergangenheit zu werfen und dort auch Entdeckungen wie die Johannespassion von Christoph Ludwig Fehre, einem protestantischen Dresdner Musiker der Bach-Zeit und Kantor an der Annenkirche, zutage zu fördern. Damit wird die Liste sächsischer Erkundungen fortgesetzt, zu denen zuletzt u. a. Georg Gebels Johannespassion (erfolgreich aufgeführt im Konzertjahr 2016) gehörte und auch die nun angekündigte Adventskantate Telemanns und die lutherischen Messen Bachs zu rechnen sind. Andererseits startet der Chor eine neue Reihe von Auftragswerken an junge und jüngste Komponistinnen und Komponisten, die im Kontrast dazu in den kommenden Programmen des "Adventssterns der Singakademie" neue weihnachtliche Chormusik, begleitet auf historischem Instrumentarium, entwerfen sollen: Komponistinnen und Komponisten wie Maximilian Otto und Jan Arvid Prée, die beide schon Preise beim Bundeswettbewerb "Jugend komponiert" errungen haben, junge Komponierende der Dresdner Kinderkomponistenklasse sowie Studierende der Dresdner HfM.
Reflexionen
Der besondere Anspruch der Singakademie Dresden ist es, Musik nicht nur erklingen zu lassen, sondern Sängerinnen und Sängern sowie Hörerinnen und Hörern dazu auch vermittelnde, reflektierende Informationen und Angebote bereitzuhalten. Dies soll mit einer Reihe von Reflexionen in besonderer Weise herausgestellt werden, die sich 2017 unter musikwissenschaftlichem Aspekt einerseits den Ausgrabungen und Entdeckungen, andererseits den übergreifenden politischen, kulturellen und ästhetischen Konnotationen widmen. Auf diese Weise entsteht eine wichtige zweite Ebene, die auch mit Beiträgen von Wissenschaftlern, Theologen und Musikern in den Veröffentlichungen der Programmhefte festgehalten werden soll, zusätzliche Vermittlungsveranstaltungen beinhaltet und damit auch ein Angebot für Schulen, junge Leute oder die Seniorenakademie darstellt.
CD – Produktion
Unverkennbar bleibt der Dresden-Schwerpunkt des Repertoires, der Entdeckungen wie jene von Fehre und Meinardus ebenso beinhaltet wie die geplante CD-Aufnahme der Geistlichen Sommermusik von Rudolf Mauersberger. In Fortsetzung der erfolgreichen Publikation seiner Lukaspassion im Jahre 2008 im Label querstand des Kamprad-Verlages Altenburg wird nun auch dieses zweite abendfüllende geistliche Werk aufgenommen und trägt sicher dazu bei, eine wichtige Lücke bei der Betrachtung von Form in der Musik der Nachkriegszeit zu schließen, die in besonderer Weise von den Nachwehen und Katastrophen im Spannungsfeld tiefgreifender Reformen und Revolutionen geprägt war und in diesem Kontext nicht weniger wichtig erscheint als jene von Eisler, Dessau, Blacher, Hartmann, Henze, Wagner-Régeny oder Bredemeyer.