Jahresheft zum Download
Liebe Freundinnen und Freunde der Singakademie,
es ist eine Ehre und Herausforderung zugleich, Sie an dieser Stelle als neuer künstlerischer Leiter zu begrüßen. Ekkehard Klemm hat in den 17 Jahren seiner Tätigkeit mit kontrastreichen und ambitionierten Programmen Maßstäbe gesetzt. Unter seiner Leitung wurde es zur Selbstverständlichkeit, regelmäßig zeitgenössische Musik aufzuführen, nicht als förderungsbegünstigendes Pflichtprogramm, sondern weil wir hier und heute leben und musizieren. Es ist eine sehr reizvolle Aufgabe, an diese Entwicklung anzuknüpfen und sowohl Verbindungslinien als auch Gegensätze zwischen dem liebgewonnenen, immer neu zu beleuchtenden Repertoire und dem manchmal sperrigen Neuen auszuloten.
Exemplarisch für diese Balance stehen Uraufführungen von Torsten Reitz und Franz Ferdinand Kaern auf der einen Seite und Mendelssohns Paulus – ein Balsam für die durch Distanzproben geschundene Chorseele – auf der anderen Seite.
Übergänge
Während die Singakademie einen »geregelten Übergang« auf dem Gebiet der Leitung erfährt, ist unser Alltag im Moment voller schwer vorhersehbarer Übergänge – zwischen Lockdown und Öffnung, zwischen verschiedenen Inzidenzstufen – allgemein gesprochen zwischen Hoffen und Bangen. Konzertplanung braucht in diesen Tagen einen unerschütterlichen Optimismus und Mut zur Korrektur, wenn sich etwas als nicht realisierbar herausstellt. So ist es möglich, dass dieses Programm, das Sie in Ihren Händen halten, bereits wieder teilweise überholt ist. Informieren Sie sich darum unbedingt auch auf unserer Website über die aktuelle Situation. Wenn wir jedoch Richard von Weizsäckers viel zitierten Satz »Kultur ist kein Luxus, (...) sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert« ernst nehmen, dann gibt es zum Planen auf Hoffnung hin keine Alternative.
Übergänge sind auch gute Zeiten, um neue Schritte zu wagen. Wir suchen für alle unsere Chöre neue Sängerinnen und Sänger. Wir finden auch in Corona-Zeiten Möglichkeiten, um Ihnen die Teilnahme oder wenigstens einen Eindruck von unserer Probenarbeit zu ermöglichen. Melden Sie sich gern im Büro der Singakademie. Ich würde mich freuen, Sie kennenzulernen!
Überhänge
Die von der Singakademie für 2020 geplanten Impulse von, mit und zu Beethoven sind zu einem großen Teil stumm geblieben. Der Übergang prä-Corona zu (hoffentlich!) post-Corona wird damit zunächst zu einem Überhang. Ausgefallene Akzente und Impulse des Jahresplans 2020 sollen nachgeholt werden, da sie nicht zuletzt bereits einstudiert und teilweise zur Konzertreife gebracht worden sind. So wird das Konzert »Beethoven in Afrika« mit Teilen der Missa solemnis und der Mass von Peter Klatzow im Juni 2021 nachgeholt. Mit diesem Konzert verabschiedet sich Ekkehard Klemm in seiner Funktion als künstlerischer Leiter.
Beethovens C-Dur-Messe wird – eine absolute Seltenheit in der Dresdner Konzertlandschaft! – mit dem Dresdner Barockorchester in historischem Klanggewand zu erleben sein. Gemeinsam mit Andreas Rombergs Vertonung von Schillers Lied von der Glocke erklingt sie, ebenfalls im Juni, in meinem Antrittskonzert. Jurgita Česonyte, Assistentin der Singakademie und Studentin an der Dresdner Musikhochschule, steht am Übergang zum dirigentischen Berufsleben und wird die Vertonung des bekannten Gedichtes als Dirigierprüfung beim Konzert in der Lukaskirche leiten.
»Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn« – diese Feststellung Schillers sollte uns angesichts der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft eine Warnung sein!
Die C-Dur-Messe entstand auf Wunsch des als Arbeitgeber Haydns in die Geschichte eingegangenen Fürsten Esterházy, der jedes Jahr für den Namenstag seiner Frau eine Messe in Auftrag gab. Nach der Aufführung folgte blankes Entsetzen – der die Kompositionen Haydns gewohnte Fürst erwiderte in einem Brief, er finde die Messe »unausstehlich und abscheulich«. Dieses Urteil überrascht nicht, betrachtet man ihren radikal subjektiven Tonfall. Glauben als persönliche Entscheidung und nicht als institutionalisierte Pflicht aufzufassen, musste in der Zeit der Habsburgerherrschaft Widerstände hervorrufen.
Übergänge – Umbrüche
Als Widerstandskämpfer gegen das aus seiner Sicht zu Unrecht im Aufwind befindliche Christentum verstand sich Saulus ohne Zweifel. Nach einer Lichterscheinung und dreitägiger Blindheit folgt die Kehrtwende – die Wandlung vom »Saulus« zum »Paulus« ist als Sprichwort allseits bekannt. Die von Mendelssohn eindrucksvoll komponierte Geschichte des Paulus steht nicht nur für harte biografische Umbrüche, sondern auch für den Übergang zu einem neuen Verständnis von Glauben. Er soll nicht mehr von der eigenen Leistung abhängig sein, sondern als Geschenk verstanden werden.
Das Bedürfnis nach Hoffnung und Trost angesichts äußerer und innerer Zerwürfnisse wird auch in den Geistlichen Liedern von Mendelssohn aufgegriffen, die der Seniorenchor zusammen mit anderen Kompositionen im Herbst aufführen wird.
Übergänge – Grenzgänge
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie schnell bereits als bedeutungslos empfundene Grenzen innerhalb Europas wieder Realität werden können. Nicht weniger Anlass zur Sorge geben die Grenzen in den Köpfen, die sich zwischen Menschen verschiedener Meinungen auftun und die nicht selten mit scharfer Wortmunition verteidigt werden.
Musikalische Grenzübertritte sind glücklicherweise immer möglich. Gelungene Grenzgänge bereichern unsere Fantasie und erweitern den Raum unserer Vorstellungskraft. Die Singakademie begibt sich in diesem Jahr mehrfach in Grenzbereiche zwischen historischem musikalischem Material und aktueller Inspiration. So wird in der Kreuzvesper eine Uraufführung des Dresdner Komponisten und Pianisten Torsten Reitz mit dem schlichten Titel Kirchenlied erklingen, bei dem das Publikum eingeladen ist, einen altkirchlichen Gesang mitzusingen, der in vielen Kirchgemeinden zum liturgischen Standardrepertoire gehört. Der Übergang zwischen Interpreten und Zuhörern ist dabei fließend. Das Stück ist Teil einer Gemeinschaftskomposition des emeritierten Dresdner Kompositionsprofessors Jörg Herchet, der zahlreiche Weggefährten gebeten hat, für seine Kantate zum 17. Sonntag nach Trinitatis einzelne Sätze zu schreiben.
Einen Grenzgang zwischen Tradition und ganz im Heute verorteter Interpretation wird auch der Kinderchor wagen, der sich Ludwig van Beethoven mit Auszügen aus dem Musical Freunde, Töne, Götterfunken von John Høybye auf charmante und humorvolle Weise nähern wird.
Übergänge – Kaleidoskop
Im diesjährigen Adventsstern der Singakademie begegnet uns das Jahresthema auf vielfältige Weise, in unterschiedlichsten Klangfarben und Stilen. Gleich einem Kaleidoskop fächern sich die Elemente bunt auf und sind doch Teil einer Struktur. Alles handelt vom Unterwegs-Sein, im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn.
Auf dieser »Lebenswanderung« begegnen Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, der freudig erwartenden Maria, dem erleichtert loslassenden Simeon, aber auch dem ruhelosen Wanderer Schuberts, sowie dem vom plötzlichen Tod seiner ersten Frau erschütterten Johann Sebastian Bach. Dessen Actus tragicus steht im Mittelpunkt des Programms.
Der auch als Nunc dimittis bekannte Lobgesang des Simeon Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren erklingt in einer Vertonung von Heinz Werner Zimmermann mit Chor, Orgel, Kontrabass und Vibraphon. Die Komposition entstand im Jahr 1988 in der DDR, kurz vor einem Übergang des politischen Systems, der von vielen herbeigesehnt, aber wohl von wenigen für möglich gehalten wurde.
Beständige Rastlosigkeit ist das Thema zweier Lieder Franz Schuberts, die für das Konzert eine neue klangliche Gestalt erhalten werden – auch hier wagen wir Grenzgänge, ebenso wie der Leipziger Komponist Franz Ferdinand Kaern in seiner von der Singakademie in Auftrag gegebenen Komposition Simeons Abgesang.
Übergänge – An der Schwelle
Ich wünsche mir, dass wir dem Übergang in das Jahr 2022 optimistisch entgegenblicken können, in der Hoffnung, dass unser Alltag und unsere Aufmerksamkeit dann nicht mehr in solchem Maße vom Coronavirus dominiert sein werden. Hoffnung werden uns auch Seniorenchor und Kinderchor spenden, wenn sie das Oratorio de Noël von Camille Saint-Saëns gemeinsam zur Aufführung bringen. Beethovens 9. Sinfonie darf als Konstante des Jahresprogrammes an der Schwelle zum neuen Jahr nicht fehlen. Dem dort überschwänglich artikulierten Wunsch, die Musik solle die Menschen näher zusammenrücken lassen (was hoffentlich bald wieder auch ganz wörtlich der Fall sein wird), schließe ich mich von ganzem Herzen an.
Liebe Freundinnen und Freunde der Singakademie, bitte schenken Sie uns auch in Zukunft ein off enes Ohr und, wenn Sie mögen, auch ein off enes Herz.
Ihr Michael Käppler