Jahresheft zum Download
»In jedem Kinde liegt eine wunderbare Tiefe; trübe und verflache man nur diese nicht.«
Robert Schumann
Erinnern Sie sich an Ihre ersten Erfahrungen mit klassischer Musik?
Mir kommt meine Großmutter in den Sinn, die bei einem ihrer seltenen Besuche eine – zugegebenermaßen recht kitschige – Paraphrase über Weihnachtslieder mit dem Titel Friede auf Erden! auf dem Klavier spielte. Für meine Kinderaugen schienen sich die Finger mit faszinierender Treffsicherheit und Geschmeidigkeit über die Tasten zu bewegen. Um dieses Instrument zu beherrschen, musste man wohl über Zauberkräfte verfügen.
Es ist nicht leicht, sich die Begeisterung des kindlichen Blickes zu bewahren. Die Erfahrungen, die wir mit Musik in unserem Leben bereits gemacht haben, können unseren Blick schärfen, aber auch abstumpfen lassen. Gelingt es, die Magie des »ersten Mals« festzuhalten, um nicht in die routinierte Gleichgültigkeit des Alles-schon-gehörtHabens zu verfallen? Kinder lehren uns, das scheinbar Selbstverständliche neu zu bestaunen. Wie nehmen wir eine überraschende Harmoniefolge, eine spannungsgeladene Klangballung oder die Stille nach einem Konzert unter diesem Blickwinkel wahr?
Unser aktuelles Jahresprogramm möchte nicht nur über kindliche Weltsichten nachdenken, sondern Kinder und Jugendliche selbst auf vielfältige Weise in den Blick nehmen. Es ist kein Geheimnis: Chormusik hat nur dann eine Zukunft, wenn wir junge Menschen zum Zuhören und Mitsingen gewinnen können. Dabei nur an zukünftige potentielle »Musikkonsumenten« zu denken, wird ihnen nicht gerecht. Selbst zu musizieren, zu komponieren, sich mit Entdeckerfreude und Kreativität in die Musik hineinzubegeben – das schafft langanhaltende Begeisterung. Sie können in unseren Konzerten deshalb nicht nur Musik für Kinder, sondern auch mit und von Kindern erleben.
Wir starten unsere Konzertsaison mit geballter jugendlicher Verve: Das Konzert »Wunderkinder« im April führt die Musik des 12-jährigen W. A. Mozart und der heute weitgehend vergessenen römischen Komponistin Maria Rosa Coccia mit dem Jugendbarockorchester »Bachs Erben«, Solist:innen des Sächsischen Landesgymnasiums für Musik und dem (Jugend)kammerchor der Singakademie zusammen. Nicht nur Kindern wollen wir die Möglichkeit bieten, selbst aktiv zu werden statt »nur« zuzuhören. Bei unserer Konzertwerkstatt im Mai mit Haydns Schöpfung sitzen daher Laienstreicher:innen gemeinsam mit Profis am Pult. Speziell für junge Spieler:innen entstanden in einem Kooperationsprojekt mit Studierenden der Uni Erfurt vereinfachte Juniorstimmen.
Der Juni steht im Zeichen des Swing und führt die Linie der sächsisch-thüringischen Kooperationen fort. In Dresden und Erfurt erklingt das Sacred Concert von Duke Ellington als Gemeinschaftsproduktion unseres Jugendkammerchores mit dem Kammerchor und der Bigband der Uni Erfurt. Beim Thema »Kinderaugen« ist natürlich auch unser Kinderchor an erster Stelle mit dabei, der seit letztem Jahr mit Herzblut und Inspiration von Maja Selina Seidel geleitet wird. Das Sommerkonzert des Kinderchores präsentiert die ersten Früchte unseres Patenprogrammes, wenn unser »Chornachwuchs« gemeinsam mit Kindern aus Dresdner KiTas und Grundschulen seinen Liederschatz zum Thema »Ich schenk‘ dir einen Regenbogen« vorstellt.
Nach den Komponistenstraßenkonzerten in den Vorjahren bereiten wir auch diesmal wieder ein sommerliches Open-Air-Projekt vor. In Zusammenarbeit mit den Dresdner Verkehrsbetrieben präsentieren wir Anfang Juli eine »Wassermusik« anderer Art – wir singen Chormusik zu Flüssen, Seen und Meeren an den Dresdner Fähranlegestellen.
Während Kinderaugen meistens intensiv die Gegenwart betrachten, blicken ältere Menschen gern in die Vergangenheit. Im Frühjahr und Sommer gestaltet der Seniorenchor unter Leitung von Robert Schad unter dem Titel »Von Damals und Heute« ein Programm rund um Geschichten und Erinnerungen der Chormitglieder. Im September wird es märchenhaft, wenn sich Könige, Prinzen und Feen in Humperdincks Dornröschen ein Stelldichein geben. Großer Chor, Jugendkammerchor und Kinderchor widmen sich gemeinsam der romantischen Märchenoper, die in der Umsetzung Humperdincks bis ins Weltall hinausführt. Um den großen Orchestersatz für unsere jungen Chormitglieder »ersingbar« zu machen, erstellt
der Dresdner Komponist Maximilian Nicolai im Auftrag der Singakademie eine Fassung für Kammerorchester. In der Schattenspiel-Inszenierung von Franziska Leonhardi können Kinder selbst mit zu Bühnenbildner:innen und Darsteller:innen werden. Eine weitere Besonderheit bei diesem Familienkonzert: kleine Zuhörer, die im Schlafanzug kommen, haben freien Eintritt!
Dass man sich kindliche Entdeckerlust bis ins Seniorenalter bewahren kann, zeigt das Konzert »Generationen«, bei dem der Seniorenchor neben Musik Dresdner Komponisten des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Uraufführungen aus der Gegenwart singen wird. In dieser Gegenüberstellung zeigt sich, dass die Komposition guter Musik keine »Generationenfrage« ist.
Bei aller kindlichen Unbeschwertheit, die in diesem Jahresprogramm im Vordergrund steht, sollen Leid und Traurigkeit nicht ausgeblendet werden. Die Aufführung des Brahms-Requiems in der Fassung für Soli, Chor und Orgel veranstalten wir darum als Benefizkonzert für den Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst Dresden.
Mit Kinderaugen zu sehen, heißt auch, seinen Blick auf die Gegenwart zu richten. Im Rahmen des diesjährigen »Adventsstern«-Konzertes erklingen zwei Stücke aus der Feder junger Komponist:innen der Kinderkomponistenklasse Dresden. Die Uraufführungen treten in Dialog mit dem Stern von Bethlehem von Rheinberger und einer Bearbeitung des Adagios aus der 7. Sinfonie von Anton Bruckner für Chor – wahrhaft ein musikalischer Griff nach den Sternen. Beim gemeinsamen Weihnachtskonzert aller Chöre der Singakademie können Sie schließlich noch einmal unsere gesamte »Chorfamilie« erleben. Leuchtende Kinderaugen und gespannte »Erwachsenenohren« gleichermaßen sind das Ziel unserer zahlreichen Konzerte und Veranstaltungen im Jahr 2023. Ihr Interesse ist Lohn und Ansporn für unser großes Team, das dieses Programm erst möglich macht. Gleich ob als Mitsänger:in in unseren Chören oder als Zuhörer:in in unseren Konzerten – Wir freuen uns auf Sie!
Ihr
Michael Käppler